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Mehrsprachigkeit in Rio Grande do Sul: Zur Negation im Brasilianischen Hunsrückisch

[Multilingualism in Rio Grande do Sul: On negation in Brazilian Hunsrückisch]

Zusammenfassung

Im vorliegenden Artikel wird anhand eines spontansprachlichen Korpus bilingualer Sprecher ein sprachliches Phänomen im brasilianischen Hunsrückischen genauer betrachtet: die Negation. Die Negation ist insofern linguistisch interessant, als sie in den beiden involvierten Kontaktvarietäten (deutsche Minderheitensprache, brasilianisches Portugiesisch (BP)) unterschiedlich ausgeprägt ist. Von Interesse ist insbesondere die Stellung des Negationswortes in Hinblick auf das finite Verb und das direkte Objekt sowie die Frage, ob zwei Negationselemente in einem Satz vorkommen können, ohne dass die negative Interpretation des Satzes sich in eine Affirmation wandelt (Negative Concord). Ziel der Analyse ist es, mögliche Sprachkontaktphänomene und sprachkontaktbedingten Wandel zu identifizieren. Es wird geschlussfolgert, dass die Negation im Hunsrückischen sehr stabil ist und deutschen Wortstellungsmustern folgt. Diese grammatische Stabilität beruht auf dem regelmäßigen Gebrauch des Dialekts. Dennoch finden sich wie im BP Phänomene von Negative Concord, das im Standarddeutschen nicht in gleicher Weise möglich ist. Im Gegensatz zum brasilianischen Portugiesischen handelt es sich allerdings nicht um ein kategorisches, sondern um ein variables Phänomen, das in ähnlicher Weise in anderen deutschen Dialekten existiert bzw. existierte.

Stichwörter:
bilinguale Sprecher; Hunsrückisch; Sprachkontakt; Negation

Abstract

Based on a corpus of spontaneous speech production of bilingual speakers, the present paper investigates the properties of negation in Brazilian Hunsrückisch. Focussing on negation is interesting from a linguistic perspective because this linguistic phenomenon is very differently realized in the two contact varieties involved (German variety, Brazilian Portuguese (BP)). We focus on the position of the negation marker vis-á-vis the finite verb and direct object and on the question whether two negation words can occur within one and the same sentence without turning it into an affirmative proposition (Negative Concord). The aim of our analysis is to identify potential areas of contact-induced language change and cross-linguistic influence. The results show that negation is a very stable phenomenon in Hunsrückisch and follows German word order patterns. This stability is a result of the constant use of the dialect. Nevertheless, we find phenomena of Negative Concord which are similar to BP but not grammatical in Standard German. In contrast to BP, Negative Concord with negated objects is not a categorical but a variable phenomenon which also exists or existed in other German dialects.

Keywords:
bilingual speakers; Hunsrückish; language contact; negation

Resumo

Com base num corpus de produção de fala espontânea de falantes bilingues, o presente trabalho investiga as propriedades da negação em hunsruquiano brasileiro. O foco na negação é interessante do ponto de vista linguístico, porque este fenómeno linguístico é realizado de forma muito diferente nas duas variedades de contacto envolvidas (variedade alemã, português brasileiro (PB)). Centramo-nos na posição do marcador de negação em relação ao verbo finito e ao objecto directo e na questão de saber se dois elementos de negação podem ocorrer dentro de uma mesma frase sem a transformar numa afirmação (Concordância Negativa). O objetivo da nossa análise é identificar potenciais áreas de mudança linguística induzida pelo contato linguístico e por transferência linguística. Os resultados mostram que a negação é um fenómeno muito estável em hunsruquiano e segue os padrões de ordem das palavras do alemão. Esta estabilidade é o resultado do uso constante do dialeto. No entanto, encontramos fenómenos de Concordância Negativa que são semelhantes ao PB, mas agramaticais em alemão padrão. Em contraste com o PB, em alemão, a Concordância Negativa com objetos negados não é um fenómeno categórico, mas variável, o qual também existe ou existiu noutros dialetos alemães.

Palavras-chave:
falantes bilingues; hunsruquiano; contato linguístico; negação

1 Einleitung

Riogradenser Hunsrückisch (Altenhofen 1996Altenhofen, Cléo. V. Hunsrückisch in Rio Grande do Sul. Ein Beitrag zur Beschreibung einer deutschbrasilianischen Dialektvarietät im Kontakt mit dem Portugiesischen. Stuttgart: Steiner, 1996.; port.hunsriqueano riograndense) wird seit fast 200 Jahren im Süden Brasiliens gesprochen. Angefangen mit deutschen Einwanderern im 19. Jahrhundert, hat sich im Dialekt- und Sprachkontakt mit dem brasilianischen Portugiesischen eine eigenständige Kontaktvarietät bzw. Minderheitensprache herausgebildet, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Altenhofen (1996) beschreibt Hunsrückisch als ein Kontinuum westmitteldeutscher Dialekte (z.B. Rheinfränkisch und Moselfränkisch).

Obwohl Hunsrückisch vor allem in ländlichen Regionen in Rio Grande do Sul noch aktiv gesprochen wird, ist sein Gebrauch mittlerweile zu Gunsten des brasilianischen Portugiesischen rückläufiger, insbesondere bei jüngeren bilingualen Sprechern (Altenhofen 2004Altenhofen, Cléo. V. Política lingüística, mitos e concepções lingüísticas em áreas bilíngües de imigrantes (alemães) no Sul do Brasil. Revista Internacional de Linguistica Iberoamericana, v. 2, n. 1, 83-93, 2004.; Wagner 2019Wagner, Claudia. Mudança sintática em uma ilha linguística alemã sul-brasileira. Dissertação (de Mestrado) - Universidade do Minho, Braga/Goethe Universität, Frankfurt, 2019.).

Im vorliegenden Artikel betrachten und beschreiben wir anhand eines spontansprachlichen Sprachkorpus von bilingualen hunsrückisch-portugiesischen Sprechern (20 Interviews, siehe Wagner 2019Wagner, Claudia. Mudança sintática em uma ilha linguística alemã sul-brasileira. Dissertação (de Mestrado) - Universidade do Minho, Braga/Goethe Universität, Frankfurt, 2019.) ein sprachliches Phänomen im Hunsrückischen: die Negation. Von Interesse für die Sprachkontaktforschung sind insbesondere solche Eigenschaften der Negation, die im brasilianischen Portugiesischen typischerweise anders ausgeprägt sind als im Deutschen oder deutschen Dialekten, bzw. Minderheitensprachen, nämlich die Stellung des Negationswortes in Hinblick auf das direkte Objekt und das finite Verb sowie die Frage, ob zwei Negationselemente in einem Satz vorkommen können (negative concord), ohne dass eine affirmative Interpretation zu Stande kommt.

Eine kürzlich durchgeführte Studie, die sich auf dieselbe Datenbank wie die vorliegende Studie stützt, hat gezeigt, dass das Hunsrückische im Bereich der Verbstellung weiterhin erstaunlich strikt germanischen Wortstellungsmustern folgt und zwar auch bei simultan bilingualen Sprechern der jüngeren Generation (Flores; Rinke; Wagner 2022Flores, Cristina; Rinke, Esther; Wagner, Claudia. "To hón ich imma insistieat." Syntactic stability in heritage Hunsrückisch German spoken in Brazil. Linguistic Approaches to Bilingualism, v. 12, n. 3, 251-279, 2022. https://doi.org/10.1075/lab.20041.flo.
https://doi.org/10.1075/lab.20041.flo....
). Diese Sprecher hatten zwar in der Kindheit regen Kontakt mit dem Dialekt, vor allem, weil er die Familiensprache war, verwenden ihn als Erwachsene jedoch weniger als ältere Sprecher. Es stellt sich die Frage, ob Negation ebenso stabil ist wie die Wortstellung oder ob sich in diesem Bereich möglicherweise aufgrund des Einflusses des brasilianischen Portugiesischen bereits ein sprachkontaktbedingter Wandel zeigt. In diesem Zusammenhang ist es auch vorstellbar, dass Konvergenzphänomene auftreten, wie sie aus anderen Studien zum Sprachkontakt berichtet werden (cf. Braunmüller; House 2009Braunmüller, Kurt; House, Juliane. Convergence and divergence in language contact situations. Amsterdam: John Benjamins, 2009.).

Der folgende Abschnitt (Kapitel 2) enthält einige einführende historische und soziolinguistische Informationen zum Riogradenser Hunsrückisch. Im Anschluss stellen wir unser Korpus vor. In den Abschnitten 4 und 5 werden die untersuchten Phänomene der Negation für das brasilianische Portugiesische und das Deutsche (unter Berücksichtigung dialektaler Merkmale) kontrastiv dargestellt und mit den Ergebnissen unserer Korpusanalyse verglichen. In Kapitel 6 fassen wir unsere Ergebnisse zusammen und kommen zurück zu unserer Ausgangsfrage nach dem Einfluss des brasilianischen Portugiesischen bzw. nach einer möglichen sprachlichen Konvergenz im Bereich der Negation.

2 Das Riogradenser Hunsrückisch als dialektale Kontaktvarietät

Obwohl es keine aktuellen offiziellen Statistiken gibt, wird angenommen, dass in Brasilien bis zu drei Millionen Menschen den Riograndenser hunsrückischen Dialekt sprechen (Altenhofen 2019Altenhofen, Cléo. V. Stützung des Spracherhalts bei deutschsprachigen Minderheiten: Brasilien. In: Ammon, Ulrich; Schmidt, Gabriele (Ed.). Förderung der deutschen Sprache weltweit: Vorschläge, Ansätze und Konzepte. Berlin/Boston, 2019, 531-551.; Bortikova 2016; Eberhard et al. 2022Eberhard, David M.; Simons, Gary F.; Fennig, Charles D. Ethnologue: Languages of the World. Twenty-fifth edition. Dallas, Texas: SIL International, 2022. (http://www.ethnologue.com).
http://www.ethnologue.com...
). Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts (ab 1824) war der brasilianische Bundesstaat Rio Grande do Sul das Zentrum der deutschen Einwanderung nach Brasilien. Die im neunzehnten Jahrhundert entstandenen deutschen Kolonien blieben lange Zeit isoliert, was dazu führte, dass sie ihren lokalen Dialekt bzw. ihre Dialekte über mehrere Generationen hinweg bewahrten (Koch 1974Koch, Walter. Falares alemães no Rio Grande do Sul. Porto Alegre: Editora da UFRGS, 1974.). Nichtsdestotrotz wird das heute in Santo Cristo und anderen Regionen von Rio Grande do Sul gesprochene Hunsrückisch als Ergebnis der Konvergenz verschiedener westmitteldeutscher Dialekte angesehen. Nach Altenhofen (1996) stellt es ein Kontinuum zwischen dem Rheinfränkischen und dem Moselfränkischen dar - zwei regionale Varietäten, die im rheinland-pfälzischen Hunsrück gesprochen werden. Diese Sprachvarietät umfasst auch Regionen an der Grenze zu Hessen, dem Saarland und Luxemburg.

Aufgrund des anhaltenden Sprachkontakts zwischen den verschiedenen Dialekten des Deutschen sowie zwischen den deutschen Dialekten und dem Portugiesischen haben die verschiedenen Varietäten des Hunsrückischen, die in den teilweise weit voneinander entfernten deutschen Siedlungen gesprochen werden, einige individuelle lexikalische und phonologische Besonderheiten entwickelt. Aus soziolinguistischer Sicht wird das Hunsrückische als eine mehr oder weniger homogene deutsch-brasilianische Koiné verstanden (Altenhofen 1996Altenhofen, Cléo. V. Hunsrückisch in Rio Grande do Sul. Ein Beitrag zur Beschreibung einer deutschbrasilianischen Dialektvarietät im Kontakt mit dem Portugiesischen. Stuttgart: Steiner, 1996.; Koch 1974Koch, Walter. Falares alemães no Rio Grande do Sul. Porto Alegre: Editora da UFRGS, 1974.). Der Einfluss des Brasilianischen Portugiesisch ist vor allem im Lexikon sichtbar und zeigt sich durch Code-Switching und Entlehnungen (Damke 1997Damke, Ciro. Sprachgebrauch und Sprachkontakt in der deutschen Sprachinsel in Südbrasilien. Berlin: Peter Lang, 1997.; Schaumloeffel 2003Schaumloeffel, Mauro Raul. Estudo da Interferência do Português da Variedade Dialetal Hunsrück Falada em Boa Vista do Herval. Dissertação (de Mestrado) - Universidade Federal do Paraná, 2003.).

Der Dialekt wird auch heute noch, also 200 Jahre nach den ersten Einwanderungs-bewegungen, aktiv von Nachkommen deutscher Einwandererfamilien gesprochen. Selbst während des Zweiten Weltkriegs und während der brasilianischen Diktatur, als Deutsch offiziell verboten war, wurde der Dialekt in Rio Grande do Sul und darüber hinaus am Leben erhalten. Der Bezirk Santo Cristo im Nordwesten des Bundesstaates Rio Grande do Sul, 550 KM von der Hauptstadt Porto Alegre entfernt, gehört zu den Gebieten, in denen die deutsche Kultur noch gepflegt und Hunsrückisch von vielen Einwohnern täglich gesprochen wird. Dies ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Hunsrückisch in Santo Cristo und in vielen Gebieten, in denen der Dialekt gesprochen wird, keine offizielle oder ko-offizielle Sprache ist. Das bedeutet, dass dort Hunsrückisch auch nicht Teil des öffentlichen Schulunterrichts ist und auch sonst fast nicht geschrieben wird (siehe aber Schaumloeffel 2003Schaumloeffel, Mauro Raul. Estudo da Interferência do Português da Variedade Dialetal Hunsrück Falada em Boa Vista do Herval. Dissertação (de Mestrado) - Universidade Federal do Paraná, 2003. und Altenhofen et al. 2007Altenhofen, Cléo. V; Frey, Jaqueline; Lidiani Käfer, Maria; Klassmann, Mário S.; Neumann, Gerson R.; Spinassé, Karen P. Fundamentos para a escrita do Hunsrückisch falado no Brasil. Revista Contingentia, v. 2, n. 1, 73-87, 2007. zum Versuch, eine hunsrückische Schriftsprache zu etablieren). Trotz der aktiven Verwendung in der Gemeinschaft hat der Dialekt jedoch - wie auch andere Minderheitensprachen - ein geringes Prestige, denn er wird mit ländlichen Regionen und einem niedrigen sozialen Status assoziiert (Wagner 2019Wagner, Claudia. Mudança sintática em uma ilha linguística alemã sul-brasileira. Dissertação (de Mestrado) - Universidade do Minho, Braga/Goethe Universität, Frankfurt, 2019.). Das führt in vielen Regionen zu einem Rückgang der Zahl der jüngeren Sprecher, da viele bilinguale Eltern, die den Bildungserfolg ihrer Kinder unterstützen wollen, sich für Portugiesisch als Familiensprache entscheiden. Demgegenüber gibt es aber auch kulturelle und gesellschaftliche Initiativen, deren Ziel es ist, die Minderheitensprachen aufzuwerten und ihnen im brasilianischen Bildungssystem zu mehr Geltung zu verhelfen.

Im Folgenden stellen wir die verschiedenen Muster der Negation im Deutschen und im brasilianischen Portugiesischen kontrastiv einander gegenüber und vergleichen sie mit den Negationsmustern in unserem Datenkorpus. Wir konzentrieren uns dabei vor allem auf die Satznegation, die durch die Negationsmarker nicht im Deutschen, não im Portugiesischen und net im Hunsrückischen realisiert wird. Wir stellen dar, wie der Negationsmarker üblicherweise zum finiten Verb bzw. zu Infinitiven oder Partizipien steht. Weiterhin interessiert uns seine Stellung zum direkten Objekt und die Möglichkeit des Vorkommens von zwei Negationselementen in einem Satz, ohne dass sich die negative Interpretation des Satzes ändert (negative concord).

3 Das Korpus

Das Korpus des Hunsrückischen aus Santo Cristo/Rio Grande do Sul entstand im Rahmen einer Masterarbeit des Double Degree Masters Deutsch-Portugiesische Studien an der Universidade do Minho/Portugal und Goethe-Universität Frankfurt (Wagner 2019Wagner, Claudia. Mudança sintática em uma ilha linguística alemã sul-brasileira. Dissertação (de Mestrado) - Universidade do Minho, Braga/Goethe Universität, Frankfurt, 2019.). Das Korpus basiert auf Interviews mit zwanzig Sprechern, die aus dem ländlichen Gebiet von Santo Cristo im Bundesstaat Rio Grande do Sul im Süden Brasiliens stammen. Die Interviews wurden auf Hunsrückisch geführt. Die Sprecher wurden in zwei Altersgruppen mit jeweils 10 Teilnehmern unterteilt: eine ältere Gruppe (Alter 55 bis 75 Jahre, Ø 64,5) und eine jüngere Gruppe (Alter 25 bis 40, Ø 33). Da es keine formale Ausbildung bzw. Schulbildung im Hunsrückischen gibt, wird der Dialekt ausschließlich innerhalb der Familien verwendet und von Geburt an mündlich weitergegeben.

Die Sprecher der älteren Generation arbeiten hauptsächlich als Bauern (eine Teilnehmerin ist Putzfrau). Obwohl alle Sprecher in der Lage sind, Portugiesisch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben, bevorzugen die älteren Sprecher bei ihren täglichen Aktivitäten Hunsrückisch. Nur die religiösen Praktiken finden ausschließlich auf Portugiesisch statt. In der jüngeren Generation ist der Gebrauch des Hunsrückischen jedoch anders, denn er beschränkt sich ausschließlich auf die Kommunikation innerhalb der Familie, vor allem mit der älteren Generation. Man kann die Zweisprachigkeit der jüngeren Sprecher in diesem Sinne als ausgeglichen definieren, denn sie haben das Hunsrückische von Geburt an erworben und verwenden den Dialekt noch immer in informellen Zusammenhängen, insbesondere mit ihren Eltern. Der intensive Kontakt mit der Mehrheitssprache Portugiesisch begann in der Schule, im Alter von sechs/sieben Jahren, doch zur Zeit der Datenerhebung ist das Portugiesische ihre dominante Sprache im Alltag. Portugiesisch wird bei der Arbeit und außerhalb des familiären Umfelds verwendet. Mit ihren eigenen Kindern sprechen die Sprecher der jüngeren Generation den deutschen Dialekt und Portugiesisch. Dies führt dazu, dass die Kinder geringeren Kontakt mit Hunsrückisch haben, was wiederum dazu führen kann, dass das Hunsrückische in naher Zukunft als Kommunikationssprache in dieser Gemeinschaft verschwinden könnte, wenn keine Strategien zur Wiederbelebung der Sprache umgesetzt werden.

Die Interviews wurden im Jahre 2018 in der Region Santo Cristo aufgenommen. Sie haben eine Dauer von je 25 Minuten und wurden von der Autorin der Masterarbeit, einer Muttersprachlerin des Hunsrückischen, geführt (Wagner 2019Wagner, Claudia. Mudança sintática em uma ilha linguística alemã sul-brasileira. Dissertação (de Mestrado) - Universidade do Minho, Braga/Goethe Universität, Frankfurt, 2019.). Da die Interviewerin Teil der Gemeinschaft ist und die meisten Teilnehmer persönlich kennt, wurden die Interviews in einer sehr entspannten und natürlichen Atmosphäre durchgeführt. Es wurden vor allem Themen besprochen, die den Teilnehmern vertraut waren und ihren Alltag betrafen.1 1 Die Studie wurde von der Ethikkommission für Forschung in den Sozial- und Humanwissenschaften der Universidade do Minho unter der Nummer CECSH 057/2018 genehmigt. Der Datenschutz wurde durch die Eliminierung aller persönlichen Informationen während der Datenerhebung gewährleistet. Die Teilnehmer unterzeichneten eine Einverständniserklärung. Die Interviews wurden transkribiert und in einer Excel-Datei kodiert. Da es für das Hunsrückische keine einheitliche Schreibkonventionen gibt, wurde der Dialekt nach der von Altenhofen et al. (2007Altenhofen, Cléo. V; Frey, Jaqueline; Lidiani Käfer, Maria; Klassmann, Mário S.; Neumann, Gerson R.; Spinassé, Karen P. Fundamentos para a escrita do Hunsrückisch falado no Brasil. Revista Contingentia, v. 2, n. 1, 73-87, 2007.) vorgeschlagenen Methodik transkribiert. Nach der Transkription wurden 250 Phrasen pro Teilnehmer kodiert und analysiert, was insgesamt 5.000 Sätze ergab. Die Daten für die Analyse der Negation wurden nach den folgenden Gesichtspunkten kodiert: Typ des Negationselementes, Satztyp, Verbposition, Stellung des Negationselementes zum finiten Verb, Stellung des Negationselementes zu definiten und indefiniten Objekten und Vorkommen von zwei Negationsausdrücken in einem Satz (Negative Concord).

4 Die Stellung des Negationsmarkers zum finiten Verb

4.1 Deutsch und Portugiesisch

Im deutschen Hauptsatz geht das finite Verb dem Negationsmarker voraus (1). Wenn der Satz eine komplexe Verbform enthält, dann erscheint der Negationsmarker rechts vom finiten Verb, aber links von einem Infinitiv bzw. Partizip.

(1) a. Ich schlafe nicht.

b. Ich habe nicht geschlafen.

Verbendstellung im deutschen Nebensatz führt dazu, dass der Negationsmarker links vom finiten Verb und nicht finiten Verb erscheint.

(2) a. Ich habe gesagt, dass ich nicht schlafe.

b. Ich habe gesagt, dass ich nicht geschlafen habe.

Im Gegensatz zum Deutschen, findet sich der Negationsmarker im brasilianischen Portugiesischen normalerweise in der präverbalen Position links vom finiten Verb, unabhängig davon, ob es sich um einen Haupt- oder Nebensatz oder eine einfache oder komplexe Verbform handelt.

(3) a. Eu não dormi bem.

ich nicht schlief gut

„Ich habe nicht gut geschlafen.“

b. Eu disse que não dormi bem.

ich sagte dass nicht schlief gut

„Ich sagte, dass ich nicht gut geschlafen habe.“

c. Ultimamente eu não tenho dormido bem.

in+letzter+Zeit ich nicht habe geschlafen gut

„In letzter Zeit habe ich nicht gut geschlafen.“

In kolloquialen Varietäten des brasilianischen Portugiesischen ist es möglich, dass der Negationsmarker não zusätzlich zum präverbalen Negationsmarker (Neg2) oder allein am Satzende erscheint (Neg3) (Schwegler 1991Schwegler, Armin Predicate negation in contemporary Brazilian Portuguese: a change in progress. Orbis, v. 34, 187-214, 1991.) (4). Umstritten ist, ob und wie diese verschiedenen Möglichkeiten der Realisierung mit unterschiedlichen pragmatischen Verwendungen korrelieren (Schwenter 2005Schwenter, Scott. The pragmatics of negation in Brazilian Portuguese. Lingua, v. 115, 1427-1456, 2005.; Teixeira de Sousa 2011Teixeira de Sousa, Lílian. Sentential Negation in Brazilian Portuguese: Pragmatics and Syntax, Journal IPP, 89-103, 2011.).

(4) a. Eu não durmo não. (NEG2)

ich nicht schlafe nicht

„Ich schlafe nicht.“

b. Eu durmo não. (NEG3)

ich schlafe nicht

„Ich schlafe nicht.“

Ob Sprecher der Region Santo Cristo diese Varianten der Negation produzieren ist nicht ganz klar. Teixeira de Sousa (2012Teixeira de Sousa, Lílian. Syntax and interpretation of sentential negation in Brazilian Portuguese. Tese (de Doutorado) - Unicamp, 2012.) zu Folge werden Neg2 und Neg3 von Sprechern südbrasilianischer Dialekte eher nicht produziert und akzeptiert.

Selbst wenn dies der Fall wäre, muss festgehalten werden, dass die satzfinale Stellung des Negationsmarkers nur scheinbar mit der Stellung im Deutschen korreliert, da im Brasilianischen Portugiesischen üblicherweise nichts mehr rechts von der Negation erscheint, während im Deutschen nicht finite Formen, adverbiale Nebensätze und Objekte rechts von der Negation erscheinen können oder müssen, wie z.B. das Partizip in Beispiel (1b). Deutsch und (brasilianisches) Portugiesisch zeigen also unterschiedliche Wortstellungsmuster in Hinblick auf die Negation.

4.2 Hunsrückisch

Der Negationsmarker des Hunsrückischen lautet net. Unser Datenkorpus enthält unter insgesamt 2540 Datensätzen 160 Hauptsätze, die eine Satznegation enthalten (6.3 %). In allen Hauptsätzen finden wir ausnahmslos die postverbale Stellung des Negationsmarkers gegenüber dem finiten Verb (5a). Wenn gleichzeitig ein nicht finites Verb im Satz erscheint (78 Beispiele), dann geht der Negationsmarker dem Infinitiv oder Partizip stets voraus (5b). Dies ist auch der Fall, wenn zwei nicht-finite Verbformen in einer komplexen Verbalphrase involviert sind (5c.).

(5) a. ich wess es net.

„Ich weiß es nicht.“

b. Tu wooscht noch net uff die Welt gewest,

„Du bist noch nicht auf der Welt gewesen.“

c. Awa ich hoon net gelent spreche.

„Aber ich habe nicht gelernt zu sprechen.“

Wenn ein Infinitiv in einer satzinitalen Position dem finiten Verb vorangestellt wird, bleibt der Negationsmarker in der ursprünglichen Position zurück (6a). In einer solchen Konstellation und kurzen Sätzen (6b) erscheint der Negationsmarker am Satzende, adverbiale Ergänzungen können aber rechts vom Negationsmarker erscheinen (6c).

(6) a. awa sprecha kann sa net.

„Aber sprechen kann sie nicht.“

b. Und ich wollt net.

„Und ich wollte nicht.“

c. Tas woa net wie hait.

„Das war nicht wie heute.“

Auch im Nebensatz folgt das Hunsrückische aus Santo Cristo konsequent den deutschen Wortstellungsmustern. Der Negationsmarker net erscheint in den 28 Nebensätzen mit Satznegation im Regelfall in präverbaler Position, also links vom finiten Verb (7a). Bei komplexen Verbalphrasen geht der Negationsmarker voraus, wobei die finite Verbform der nicht finiten Verbform vorausgehen oder folgen kann (7b-c, vgl. Flores et al. 2022Flores, Cristina; Rinke, Esther; Wagner, Claudia. "To hón ich imma insistieat." Syntactic stability in heritage Hunsrückisch German spoken in Brazil. Linguistic Approaches to Bilingualism, v. 12, n. 3, 251-279, 2022. https://doi.org/10.1075/lab.20041.flo.
https://doi.org/10.1075/lab.20041.flo....
). In (7b) folgt der negierte Nebensatz nach Code-Switching auf einen portugiesischen negierten Hauptsatz, wobei der Sprecher für beide Sprachen die zielsprachliche Negation verwendet.

(7) a. wenn das net ah… die greeßt Maschin ist und…

„wenn das nicht die größte Maschine ist und...“

b. Eu não sei, dass die net gepiss hoon.

„Ich weiß nicht, dass die nicht gebissen haben.“

c. ... wo net het defa passiera.

„... was nicht hätte dürfen passieren.“

In einem Beispiel folgt die Negation scheinbar dem finiten Verb. Allerdings wird hier nicht der Inhalt des Nebensatzes negiert, sondern es handelt sich um eine elliptische Konstruktion, wobei sich die Negation auf den vorangehenden Kontext bezieht. Eine solche Konstruktion ist auch im Deutschen möglich, wie die Übersetzung zeigt.

(8) Das woa die Johra viel schener gewend.

„Das war die Jahre viel schöner gewesen.“

Jo. Awa wie ich uff die Welt komm net.

„Ja. Aber als ich auf die Welt kam, (war es) nicht (mehr schön).“

Eine Ausnahme stellen Nebensätze mit Verbzweit-Stellung dar, die durch die subordinierende Konjunktion weil eingeleiteten werden (9). Wie im gesprochenen Deutschen, folgt der Negationsmarker in diesen Konstruktionen wie im Hauptsatz dem finiten Verb. Vier Beispiele folgen in unserem Datenkorpus diesem Muster.

(9) weil ich sind … kann net schafa was dia schafa tut.

„weil ich kann nicht schaffen, was die schaffen.“

5 Die Stellung des Negationsmarkers zum direkten Objekt und Negative Concord

5.1 Deutsch und Portugiesisch

Im Deutschen können Objekte in ihrer kanonischen Position links oder rechts vom Negationsmarker stehen. Die verschiedenen Stellungsoptionen korrelieren einerseits mit der Definitheit der Objekte und andererseits mit unterschiedlichen Interpretationen. Die unmarkierte oder neutrale Stellung2 2 Wir verwenden ‚unmarkiert‘ im Sinne von neutral, d.h. - im Gegensatz zu ‚markiert‘ - nicht an bestimmte diskursive Voraussetzungen oder prosodische Betonungsmuster gebunden und quantitativ häufiger. des Negationsmarkers ist im Haupt- und Nebensatz rechts vom definiten Objekt (10a). Wenn der Negationsmarker links vom definiten Objekt erscheint (10b), dann ist das finite Verb, der Negationsmarker selbst oder das definite Objekt fokussiert. Pronomina erscheinen generell links von der Negation.

(10) a. Ich lese das Buch nicht./ ... dass ich das Buch nicht lese.

b. Ich lese nicht das Buch./ ... dass ich nicht das Buch lese.

c. Ich lese es/das nicht. / *Ich lese nicht es/das.

Indefinite Objekte werden als spezifisch interpretiert, wenn der Negationsmarker rechts vom Objekt erscheint (11a) und als nicht spezifisch, wenn das indefinite Objekt links vom Negationsmarker erscheint. Im unmarkierten Fall allerdings wird statt Negationsmarker + indefinitem Artikel der indefinite negative Determinierer kein verwendet (11c).

(11) a. Ich lese ein (bestimmtes) Buch nicht.

b. Ich lese nicht ein (einziges) Buch.

c. Ich lese kein Buch.

In satzinitialer Position stehen vorangestellte definite oder indefinite Objekte vor dem finiten Verb und damit links von der Negation.

(12) Das/Ein Buch lese ich nicht.

Im Portugiesischen ist eine Topikalisierung bzw. Linksversetzung des Objektes auch möglich (13a). Allerdings stehen definite und indefinite Objekte in ihrer kanonischen Position immer rechts vom Negationsmarker não.

(13) a. O livro, não o li.

das Buch nicht es las

„Das Buch habe ich nicht gelesen.“

b. Não li o livro/um livro.

nicht las das Buch/ein Buch

„Ich habe das Buch nicht gelesen.“

Im unmarkierten Fall wird allerdings auch im Portugiesischen ein negativer Indefinitartikel wie nenhum verwendet. Abweichend vom Deutschen muss hier gleichzeitig ein Negationsmarker im Satz stehen (14a). Die negative Lesart ändert sich dadurch nicht (Negative Concord). Im Deutschen führt eine doppelte Negation zu einer affirmativen Interpretation des Satzes (14b). Solche Sätze sind im Deutschen uneingeschränkt grammatisch; sie sind allerdings markiert und korrelieren mit einer prosodischen Hervorhebung des Negationsmarkers. Im unmarkierten Fall wird die in Klammern aufgeführte affirmative Variante präferiert.

(14) a. Não li nenhum livro.

nicht las kein Buch.

„Ich habe kein Buch gelesen.“

b. Ich habe kein Buch nicht gelesen. ( „Ich habe jedes Buch gelesen.“)

5.2 Das Hunsrückische

In unserem Korpus des Hunsrückischen aus Santo Cristo finden sich nicht sehr viele Beispielsätze, die einen Negationsmarker und ein transitives Verb + definites oder indefinites Objekt enthalten (32 Beispielsätze von 2506 Datensätzen).

Definite Nominalphrasen treten in unseren Daten rechts vom Negationsmarker auf (7 Beispiele).

(15) a. weil ich net tie Schul hoon.

„weil ich nicht die Schule habe.“

b. ob er tet net die Schneidmiddel vamieda?

„ob er nicht die Schneidmittel vermeiden würde?"

c. wenn ma net sieht tie Blokcha und allas.

„wenn man nicht sieht die Blökchen und alles."

In 16 Beispielen steht ein definites Objekt vor der Negation bzw. links von ihr, wie in den Beispielen in (16). Es handelt sich fast ausnahmslos um pronominale Objekte wie „das“-Demonstrativa oder das Pronomen „es“. Wie im Deutschen stehen pronominale Objekte stets links vom Negationsmarker. In nur einem Beispiel (16c) findet sich ein definites nominales Objekt links des Negationsmarkers.

(16) a. Ich hoon das ploss net benutzt.

„Ich habe das bloß nicht benutzt.“

b. ich hón das net richtig gelent, mas…

„Ich habe das nicht richtig gelernt, aber ...“

c. Completamente hoon ich quarta série net gemach.

„Ganz habe ich das vierte Schuljahr nicht gemacht.“

Parallel zu Beispiel (12) kann auch im Hunsrückischen ein topikalisiertes nominales oder pronominales Objekt vor dem finiten Verb und damit links von der Negation erscheinen (17).

(17) Ja, tas wess ich net.

„Ja, das weiß ich nicht.“

Nicht spezifische indefinite nominale Objekte stehen wie im Deutschen auch im Hunsrückischen rechts von der Negation. Unser Korpus enthält 9 Beispiele. Nur in einem Beispiel tritt das indefinite Objekt vor dem Negationsmarker auf.

(18) a. Da konnda ma net Wasser valangra en Português. Ploss Daitsch vazehlt.

„Da konnten wir nicht Wasser verlangen auf Portugiesisch. Nur Deutsch

gesprochen.“

b. Mia hoon net viel Artes gemach.

„Wir haben nicht viel Unfug gemacht.“

Wie im Deutschen wird Negation in Verbindung mit indefiniten Objekten auch im Hunsrückischen präferentiell durch einen negativen Determinierer ausgedrückt (62 Beispiele). Am häufigsten findet sich in unseren Daten keen („kein“, 19a-b), aber auch ke ena („kein einziger“/ ke ana („kein anderer“, 19c-d).

(19) a. Mein Mama konnd keen Brasilionisch spreche.

„Meine Mama konnte kein Brasilianisch sprechen.“

b. weil to sind keen Lait meh in die Stad.

„weil da sind keine Leute mehr in der Stadt.“

c. to wohnt kee eena Brasiliona drin.

„Da wohnt kein Brasilianer drin.“

d. Te hat keen ana Haus.

„Die hat kein anderes Haus.“

Der Negationsmarker „keen“ kann auch als Subjekt oder Objekt allein stehen (im Sinne von „keiner“/“keinen“), (20a-b).

(20) a. Is keenã umkomm.

„(Es) ist keiner umgekommen.“

b. To hón sã mia keenã keb.

„Da haben sie mir keinen gegeben.“

Interessanterweise finden sich in unseren Daten einige Beispiele, in denen negative Objekte in Kombination mit einem Negationsmarker auftreten. In allen Beispielen bleibt trotz der doppelten Negationsmarkierung die negative Interpretation des Satzes erhalten.

(21) a. Mia hara nie keen Ruh gehat mit`n Vieh.

„Wir hatten nie Ruhe mit dem Vieh.“

b. Hait tie Jovens die wisa jo net konix.

„Heute die Jugend, die weiß ja gar nichts.“

c. Die konnda net…net…ke Woat Brasilionisch vazehla oda Portugesisch,

„Die konnten kein Wort Brasilianisch sprechen oder Portugiesisch.“

Auch negative Subjekte können in Kombination mit einem negativen Objekt auftreten (22), ohne dass der Satz eine affirmative Bedeutung bekommt.

(22) Niemand hat keen Land gehat.

„Niemand hat Land gehabt.“

Phänomene von Negative Concord sind zwar in den Daten zu finden (5 Beispiele), im Gegensatz zum Portugiesischen (14a) sind sie allerdings keineswegs obligatorisch, sondern optional und eher selten. Wie die Beispiele in (19) zeigen, können negativ markierte Objekte im Hunsrückischen auch ohne einen zusätzlichen Negationsmarker vorkommen.

5 Schlussfolgerungen

Das Hunsrückische in Rio Grande do Sul ist eine Minderheitensprache, die sich seit 200 Jahren als Ergebnis der Einwanderung deutscher Siedler aus verschiedenen Dialektregionen Deutschlands nach Südbrasilien herausgebildet hat. Noch heute wird der Dialekt in der genannten Region aktiv gesprochen, obwohl die meisten Sprecher längst zweisprachig sind und auch das Portugiesische als zweite Muttersprache oder Zweitsprache beherrschen und verwenden. Eine vorherige Studie hat gezeigt, dass das brasilianische Hunsrückisch in Hinblick auf Verbstellungsmuster im Haupt- und Nebensatz eine große Stabilität zeigt und kaum vom Standarddeutschen oder anderen deutschen Dialekten abweicht (Flores et al. 2022Flores, Cristina; Rinke, Esther; Wagner, Claudia. "To hón ich imma insistieat." Syntactic stability in heritage Hunsrückisch German spoken in Brazil. Linguistic Approaches to Bilingualism, v. 12, n. 3, 251-279, 2022. https://doi.org/10.1075/lab.20041.flo.
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). Dieselbe Stabilität der germanischen Wortstellung zeigt sich auch in Hinblick auf die Stellung der Negation zum finiten Verb. Der Negationsmarker erscheint im Hauptsatz stets rechts vom finiten Verb und geht nicht-finiten Verbformen voraus. (Vfin-neg-Vinf) Im Nebensatz erscheint der Negationsmarker links von Infinitiven und finiter Verbform (neg-Vinf-Vfin). Wir schließen daraus, dass auch im Hunsrückischen der Negationsmarker net den linken Rand der rechten Satzklammer markiert. Die rechte Satzklammer wird gebildet vom nicht finiten Verb in einer strukturell tiefen Position, der Negationsmarker steht sowohl im Hauptsatz als auch im Nebensatz links davon, während die Position des finiten Verbs variiert (linke Satzklammer im Hauptsatz oder satzfinale Position im Nebensatz). Kein Sprecher verwendet den Negationsmarker in der für das Portugiesische typischen Position unmittelbar vor dem finiten Verb. Es sind somit keine Phänomene von Konvergenz oder sprachkontaktbedingtem Wandel in Hinblick auf die Stellung der Negation zum finiten oder nicht-finiten Verb zu beobachten.

In Hinblick auf die Position der Negation zu nominalen Objekten finden wir mehr Variation und auch (potentielle) Abweichungen vom Deutschen. Obwohl die Menge an Beispielen keine finalen Schlussfolgerungen zulässt, scheint es doch so zu sein, dass nur pronominale Objekte systematisch links von der Negation, also links von der rechten Satzklammer im Mittelfeld erscheinen. Definite nominale Objekte stehen im Deutschen im unmarkierten Fall in der gleichen Position, im Hunsrückischen finden wir sie in unseren Daten nur rechts von der Negation. Ob diese Stellung, die auch im Deutschen als markierte Stellung möglich ist, tatsächlich die unmarkierte Stellung der definiten nominalen Objekte im Hunsrückischen ist, kann auf der Basis unserer Daten nicht final beantwortet werden. Anzumerken ist allerdings, dass beide Stellungsmuster O-Neg-(Vinf) und Neg-O-(Vinf) der für das Deutsche charakteristischen OV-Grammatik folgen und nicht einem portugiesischen VO-Muster entsprechen.

Sehr interessant sind Beispielsätze, in denen mehr als ein negativer Ausdruck erscheint, ohne dass sich die Interpretation des Satzes zu einer Affirmation ändert. Solche Beispiele sind nicht sehr frequent, kommen aber in unserem Korpus mehrfach und bei verschiedenen Sprechern vor. Obwohl Negative Concord eine charakteristische Eigenschaft des brasilianischen Portugiesischen und in Verbindung mit negierten Objekten in ihrer kanonischen Position sogar obligatorisch ist, darf auch hier nicht leichtfertig von einem Einfluss des brasilianischen Portugiesischen auf die Minderheitensprache gesprochen werden. Zum einen sind diese Verdopplungen der Negation im Vergleich zum Vorkommen negativer Objekte ohne Negationsmarker eher selten. Zum anderen existiert bzw. existierte Negative Concord auch in anderen deutschen Dialekten. Während es beispielweise in hessischen Dialekten fast verloren gegangen ist (Weiß 2016Weiß, Helmut. Doppelte Negation, SyHD-atlas, 2016. (https://www.syhd.info//apps/atlas/#doppelte-negation [Zugriff: 17.9.2022]).
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), existiert es z.B. noch heute im Bairischen (Weiß 1998: 167-230).

(21) Mia hod koana koa Stickl Broad ned gschengt (Weiß 1998Weiß, Helmut. Syntax des Bairischen. Studien zur Grammatik einer natürlichen Sprache. (Linguistische Arbeiten 391.) Tübingen: Niemeyer, 1998.: 186)

mir hat keiner kein Stück Brot nicht geschenkt

„Mir hat keiner ein Stück Brot geschenkt.“

Abschießend kann also auch in Hinblick auf das Phänomen des Negative Concord festgehalten werden, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um ein Phänomen handelt, dass das Hunsrückische in Konvergenz mit dem Portugiesischen entwickelt hat, sondern um eine strukturelle Eigenschaft, die sich im Hunsrückischen residual erhalten hat und wiederum als ein Beleg für dessen strukturelle Stabilität zu werten ist.

Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass das Hunsrückische der Santo Cristo Region noch sehr vital ist, vor allem in Bezug auf syntaktische Phänomene wie die Negation. Diese Stabilität lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der sehr aktiven Verwendung der Sprache in der Kindheit erklären. Voraussetzung für eine ausgewogene Mehrsprachigkeit, in der beide Kontaktsprachen autonom erworben werden und keine interdependente Entwicklung aufweisen, ist, wie seit den 80er Jahren überzeugend in der Forschung zum mehrsprachigen Erwerb gezeigt wurde, der aktive und kontinuierliche Kontakt mit den Sprachen von frühem Alter an (Meisel 1994Meisel, Jürgen M. Getting FAT: The role of finiteness, agreement and tense in early grammars. In: Jürgen Meisel (Ed.). Bilingual first language acquisition: French and German grammatical development. Amsterdam: John Benjamins, 1994, 89-129.).

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  • Weiß, Helmut. Syntax des Bairischen. Studien zur Grammatik einer natürlichen Sprache. (Linguistische Arbeiten 391.) Tübingen: Niemeyer, 1998.
  • 1
    Die Studie wurde von der Ethikkommission für Forschung in den Sozial- und Humanwissenschaften der Universidade do Minho unter der Nummer CECSH 057/2018 genehmigt. Der Datenschutz wurde durch die Eliminierung aller persönlichen Informationen während der Datenerhebung gewährleistet. Die Teilnehmer unterzeichneten eine Einverständniserklärung.
  • 2
    Wir verwenden ‚unmarkiert‘ im Sinne von neutral, d.h. - im Gegensatz zu ‚markiert‘ - nicht an bestimmte diskursive Voraussetzungen oder prosodische Betonungsmuster gebunden und quantitativ häufiger.

Publication Dates

  • Publication in this collection
    01 May 2023
  • Date of issue
    May-Aug 2023

History

  • Received
    18 Sept 2022
  • Accepted
    31 Dec 2022
Universidade de São Paulo/Faculdade de Filosofia, Letras e Ciências Humanas/; Programa de Pós-Graduação em Língua e Literatura Alemã Av. Prof. Luciano Gualberto, 403, 05508-900 São Paulo/SP/ Brasil, Tel.: (55 11)3091-5028 - São Paulo - SP - Brazil
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