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Freud und die Literatur

GELEITWORT

Freud und die Literatur

Kein Wissenschaftsgebiet hat am Anfang des 20. Jahrhunderts so enge Verbindungen zur Literatur aufgebaut wie die Psychoanalyse. Sigmund Freud, der in einem dem Positivismus noch nicht völlig verschriebenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umfeld aufwuchs, gehörte einer Generation von Ärzten an, die sich gerne philosophischen Spekulationen im Rahmen einer breiten künstlerischen und wissenschaftlichen Diskussion hingaben. Die Medizin war bis dahin noch kein hermetischer Fachbereich, und der menschliche Körper hatte sich noch nicht vollständig in ein biologisches Artefakt verwandelt. Aus diesem Grund standen die Freud'schen Forschungen bereits seit den ersten Studien über die Hysterie mit der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen im Dialog. Für den Wiener Arzt bestätigte die Literatur die Erkenntnisse klinischer Forschungen; außerdem bot sie der Wissenschaft Modelle, die sich für komplexe theoretische Ansätzen eigneten, wie sich bei der Beschreibung des so genannten Ödipuskonflikts herausstellte. Andererseits wurden literarische Werke selbst Ziel psychoanalytischer Untersuchungen, wobei es viele Beispiele solcher Auslegungen gibt, die von knappen Kommentaren hin zur ausführlichen Besprechung fiktionaler Prosatexte reichen, wie die Freud'sche Schrift über die Erzählung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann.

Ein Teil der von ihm betriebenen literarischen Forschung besteht grundsätzlich darin, den Text unter dem Gesichtspunkt einschlägiger Momente im Leben des Schriftstellers zu untersuchen, dennoch sei hervorgehoben, dass sich seine Arbeit nicht auf diese biografischen Elemente reduzieren lässt; Freuds größter Beitrag im Bereich der Literaturwissenschaft geht weit darüber hinaus: Er versucht, die Notwendigkeit einer bestimmten Entwicklung der Fabel auf der Grundlage von ihr innewohnenden Elementen zu erklären. Die Handlung ist im Drama oder in der Fiktion durch eine Logik geprägt, die der Aufmerksamkeit des ungeübten Lesers entgehen kann, sich dem mit der klinischen Arbeit vertrauten Leser aber in aller Deutlichkeit offenbart. Freud war übrigens der Auffassung, dass die Neurosen sich nach dem Drehbuch eines Familienromans abspielen, in welchem das Individuum versucht, sich von der Bevormundung der Eltern zu befreien.

Seit das Gesamtwerk Freuds 2010 unter Public Domain steht, haben brasilianische Verlage neue Übersetzungen seiner Texte veröffentlicht, und zwar erstmals als direkte Übersetzungen aus dem Deutschen. Dies ist ein Aspekt, der die Themenwahl dieser Ausgabe, Beziehungen zwischen Literatur und Psychoanalyse, motiviert hat. In der vorliegenden Ausgabe bietet Pandaemonium Germanicum sieben Artikel zu diesem Thema sowie eine von André Carone angefertigte Übersetzung der ,,Vorläufigen Mitteilung" von Freud und Breuer.

Literatur

Schon immer waren Versuche, eine ,,Psychoanalyse des Textes" durchzuführen, großer Kritik von Schriftstellern und Literaturkritikern ausgesetzt, die sich gegen Freuds überwiegend inhaltliche und von seiner Methode untrennbaren Herangehensweise wehrten, weil sie zu Lasten der Formanalyse gefhe. In O vocabulário metapsicológico de Sigmund Freud: Da língua alemã às suas traduções [Sigmund Freuds metapsychologischer Wortschatz: von deutschen Ausgangstexten hin zu den Übersetzungen] geht Pedro Heliodoro TAVARES diesem Einwand auf den Grund, indem er Übersetzungen Freud'scher Texte untersucht und diese in ihrem fachlichen und literarischen Kontext bespricht. Im Hinblick auf die laufenden Veränderungen im Bereich der Übersetzungen hebt er folgende Punkte hervor: die Problematik einer bereits etablierten Fachsprache (die jedoch unter Fachleuten der verschiedenen psychoanalytischen Strömungen umstritten ist), das Erbe der Übersetzungen, die sich international behauptet haben und - ein grundlegender Aspekt für den Germanisten - der Freud'sche Stil, der von den Übersetzern nicht immer ausreichend berücksichtigt wurde.

Im von Danica Zugic Koishi übersetzten Aufsatz "...certa ternura pelo velho Zipper!": Insatisfeito anseio pelo pai e fracasso do filho em Zipper e seu pai, romance de Joseph Roth [,,...eine gewisse Zärtlichkeit für den alten Zipper". Unerfüllte Vatersehnsucht und das Scheitern des Sohnes in Joseph Roths Roman "Zipper und sein Vater"] bespricht Josef Christian AIGNER die Bedeutung der Vaterfigur für die Persönlichkeitsbildung des Protagonisten in Roths Roman. Auf der Grundlage seiner klinischen Erfahrung hebt Aigner die zentrale Rolle, die die mangelnde väterliche Instanz im Roman ausübt, hervor und wendet diese Analyse auch auf den Ich-Erzähler an - seiner Auffassung nach Roths alter ego.

Leonardo MUNK untersucht in Micenas na Viena fin-de-siècle: Nietzsche, Freud, Hofmannsthal e o eterno retorno do mito [Mikene im Wien der Jahrhundertwende: Nietzsche, Freud, Hofmannsthal und die ewige Rückkehr des Mythos] die Rolle der Elektra-Figur im gleichnamigen Werk des Wiener Schriftstellers. In den unruhigen Zeiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie geschrieben, wird dem Autor des Beitrags zufolge in der Tragödie die Perspektive der Bildung eines Matriarchats heraufbeschworen, ein aussagekräftiges Symptom der Krise innerhalb der Habsburger Monarchie, die sich vor allem über die Kaiserfigur definierte.

Rainer Maria Rilke, ein weiterer Untertan des dekadenten Kaiserreichs, schrieb wenige Jahre später, in der Zeit seines freiwilligen Exils in Paris, den Roman Malte Laurids Brigge. Im Aufsatz Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: novas perspectivas de interpretação [Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: neue Interpretationsmöglichkeiten] analysiert Renata MARTINS das Werk anhand des Freud'schen Begriffs der Verfremdung. Brigge wohnt im Ausland und erlebt einen Großstadtschock im Rahmen einer (un)heimlichen Erfahrung, die Erinnerungen an seine Kindheit und seine eigene Kastrationsangst aufleben lassen.

Kathrin H. ROSENFIELD widmet sich mit dem Beitrag Freud e Musil -ou -Psicanalista contra Vontade [Freud und Musil, oder: Psychoanalytiker gegen den eigenen Willen] Robert Musils Roman Der junge Törless, um die Psychopathologie seiner wichtigsten Romanfiguren und die ambivalente Beziehung, die der Autor mit der psychoanalytischen Theorie unterhielt, zu untersuchen.

Im Aufsatz, der direkt auf die Freud'sche Sicht auf die Literatur eingeht - A torção mimética do real: Sobre a concepção freudiana da literatura [Die mimetische Verzerrung des Realen: über das Freud'sche Literaturverständnis] -, bespricht Verlaine FREITAS den Text ,,Der Dichter und das Phantasieren", den Freud 1908 veröffentlichte, unter Bezugnahme auf Aristoteles' Poetik und Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft.

Der Beitrag von Thales Augusto Barretto de CASTRO schließt die Liste der Aufsätze, die sich dem Bereich ,,Literatur und Psychoanalyse" widmen. In Pungente Vislumbre: A Triste Infalibilidade da Culpa [Stechende Gestalt: die traurige Unfehlbarkeit der Schuld] bespricht er die Erzählung ,,O crime do professor de MatemÝtica" [Die Straftat des Mathematiklehrers] von Clarice Lispector mit Bezug auf ,,Das Unheimliche" und ,,Das Unbehagen in der Kultur", zwei der am häufigsten zitierten Freud'schen Texte, wenn es um Literatur geht.

Zum Schluss der Literatursektion bespricht Tobias KRAFT die Aktualität des Begriffs des Realismus anhand der Romane von Terézia Mora. In Von einer Poetik der Drastik: zum Entwurf eines »Realismus der Globalisierung« am Beispiel der Romane von Terézia Mora identifiziert er in den Romanen der Autorin von Alle Tage Züge des Realismus aus dem 19. Jahrhundert und aktualisiert diesen Begriff insofern, als er ihn in unseren Tagen auf eine Literatur anwendet, die von den damaligen mimetischen Verfahren und Typologien schon sehr weit entfernt ist.

Übersetzung

Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene, meistens ,,Vorläufige Mitteilung" genannt, ist ein grundlegender Text der Psychoanalyse. 1892 veröffentlicht, markiert er den zögerlichen Anfangsmoment der Forschungen, die Freud zur Beschreibung einer unbewussten Dimension der Psyche und zur Ausarbeitung der gesamten psychoanalytischen Theorie geführt haben. Durch die bei Charcot erlernte Hypnose erkennt Freud bei hysterischen Patienten ein lange zurückliegendes, bereits in der Kindheit erfolgtes Trauma. Er kommt daher zu dem Schluss, dass diese Patienten ,,großenteils an Reminiszenzen" leiden. Seitdem ist ihm die einfache phänomenologische Beobachtung von Symptomen unzureichend, um den Mechanismus der Neurosen zu erklären. André Carone bietet uns eine bisher unveröffentlichte Übersetzung des Textes (wobei hervorgehoben sei, dass die einzige auf dem brasilianischen Markt vorhandene Übersetzung auf der englischen Fassung von Strachey beruht). Die Übersetzung wird von einer Einleitung und umfangreichen Fußnoten ergänzt.

Sprache/ Sprachwissenschaft

Im sprachwissenschaftlichen Bereich dieser Ausgabe werden Beiträge vorgehalten, die auf folgende Themen eingehen: die Vergänglichkeit und Unbeständigkeit der Sprache, die Bedeutungen der Interkulturalität in der DaF-Lehre für Brasilianer und die linguistische Analyse als grundlegendes Instrument für die Übersetzung. In Die Gesprächskonstruktion nach dem Energeia-Konzept von Humboldt analysiert José Gaston HILGERT gesprochene Alltagssprache von Brasilianern und geht insbesondere auf die Fehler ein, die für improvisierte Äußerungen kennzeichnend sind. Hilgert legt das Humboldt'sche Konzept der Energeia zugrunde, um die immer erfolgenden subtilen Veränderungen der Sprache zu besprechen, die ihrerseits verhindern, dass sich die Sprache versteinert, was nur (und außerdem virtuell) in den Grammatiken der Fall ist.

In Aprendizagem intercultural na formação de professores de alemão como língua estrangeira no Brasil [Interkulturelles Lernen in der DaF-Lehrerausbildung in Brasilien] bezieht sich Maria MONTEIRO unter anderem auf Silke Ghobeisch und Uwe Koreik, um die Notwendigkeit zu untermauern, den Begriff der Interkulturalität präziser zu fassen und somit Verwechslungen mit einer einfachen Darstellung ,,anthropologischer Daten" über ein fremdes Land zu vermeiden. Die Autorin verteidigt die Auffassung, dass eine falsche Herangehensweise an das Problem in der letzten Zeit sogar zu Defiziten in der Lehrerausbildung an brasilianischen Universitäten führt.

Adriana Dominici CINTRA vergleicht im Aufsatz Bulas de medicamentos alemãs e brasileiras em contraste: alguns resultados da análise linguística [Deutsche und brasilianische Beipackzettel im Kontrast: einige Ergebnisse der linguistischen Analyse] die Erstellung von Beipackzetteln in Brasilien und in Deutschland. Ihre Analyse umfasst nicht nur die Untersuchung der Gesetzgebung in beiden Ländern, sondern auch die Verwendung von Modalverben und Anredepronomen, die von Textern beim direkten Ansprechen der Leser dieser Gebrauchsanweisungen verwendet werden. Die Autorin hebt die Komplexität der Aufgabe des Übersetzers hervor, der sich nicht nur mit rechtlichen Fragestellungen, Marketingstrategien und sozialen Konventionen der Zielkultur auseinandersetzen muss, sondern selbstverständlich auch mit den sprachlichen Eigenschaften des Textes.

Rezensionen

Das Buch Versões de Freud, das Pedro Tavares 2011 veröffentlichte, wird von Maurício Eugênio MALISKA in Do (in)traduzível ao transmissível em Freud: um debate em torno do livro "Versões de Freud" [Vom (Un)übersetzbaren zum Übertragbaren von Freuds Werken: eine Diskussion um das Buch ,,Versionen von Freuds Werken"] besprochen.

Juliana P. PEREZ rezensiert Passagens: Literatura Judaico-Alemã entre Gueto e Metrópole [Passagen-Werk: jüdisch-deutsche Literatur zwischen Ghetto und Großstadt] des Autors Luis Krausz, das 2012 herausgekommen ist.

Mit dieser zwanzigsten Ausgabe feiert die Zeitschrift ihr fünfzehnjähriges Bestehen. Wir danken all denen, die im Laufe dieser Zeit zu ihrer Verbesserung und Verstetigung beigetragen haben. Die Liste derjenigen, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben, ist so lang, dass man Gefahr läuft, jemanden versehentlich zu übergehen. Unabhängig davon wurde die Historie aber bereits im Geleitwort der Ausgabe 17 ausführlich dargestellt. Zum Schluss möchten wir noch einmal sehr herzlich unseren Gutachtern danken, denn ohne ihre Unterstützung könnten wir das strenge und gründliche Auswahlverfahren der Texte, die zur Publikation bei uns eingereicht werden, kaum bewerkstelligen.

Tercio Redondo

Dezember 2012

Übersetzung: Tinka Reichmann

Publication Dates

  • Publication in this collection
    15 Jan 2013
  • Date of issue
    Dec 2012
Universidade de São Paulo/Faculdade de Filosofia, Letras e Ciências Humanas/; Programa de Pós-Graduação em Língua e Literatura Alemã Av. Prof. Luciano Gualberto, 403, 05508-900 São Paulo/SP/ Brasil, Tel.: (55 11)3091-5028 - São Paulo - SP - Brazil
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